Die homerischen Sirenen in der lateinamerikanischen Literatur
Eine Arbeit zum Nachleben der Sirenen

1. Einleitung

Der eigene Wert eines literarischen Werkes sowie die ursprünglichen Absichten seines Autors können nur schwer oder gar nicht erörtert werden. Die Zeit, in der ein Text im Umlauf ist, gelesen und kommentiert wird, gibt ihm den Sinn, den man im Nachhinein diachronisch und nur rückblickend erörtern kann und somit im Wandel dieser Zeit auch selber den Veränderungen der Perspektiven und Angehensweisen ausgesetzt ist. Wenn man sich das Ziel setzt, eine Textpassage zu erklären und das Nachleben seiner Inhalte nachzuvollziehen, sollten einerseits die Vorgängerpositionen berücksichtigt werden. Andererseits, und von dem Vorherigen ausgehend, ist es empfehlenswert Gewissheit über den eigenen Standpunkt zu erlangen und eine bewusste Lektüre durchzuführen. Die homerischen Epen wurden schon oft neu erklärt und gemäß den jeweiligen historischen, kulturellen und politischen Umständen auch neu gedeutet. Die antike Literatur wurde durch mehrere komplexe Auswahlverfahren, die nicht immer denselben Kriterien entsprachen —wenn denn überhaupt eine Auswahl und nicht ein Zufall der Grund der Überlieferung war— zum kanonischen Vorbild all jener, die Wert darauf lagen, mit diesen zumeist idealisierten Vorbildern in Verbindung gesetzt zu werden. Über den Text hinaus lohnt es auch, einen Blick auf andere, vor allem archäologische, Quellen zu werfen, die ebenfalls Material zum behandelten Thema beitragen und neue Perspektiven ermöglichen. Dies ist vor allem mit Blick auf das Nachleben der behandelten Themen von Bedeutung, da das Verständnis der soziokulturellen Umstände einer Zeit auch die Wahrnehmung ihrer literarischen Erzeugnisse prägt.

Bild 1: Odysseus und die Sirenen auf einem römischen Mosaik.

Eine Studie zum Nachleben homerischer Bildtradition in Lateinamerika muss sich auch mit der polyedrischen Natur der kulturellen Identität dieses Kontinents auseinandersetzen. Das gewaltsame Aufeinanderkommen zwischen präkolumbischer und europäischer Kulturen nach der sogenannten Entdeckung in 1494 sowie die darauffolgende Kolonisierung des Kontinents vor allem durch Spanier und Portugiesen wirft mehrere Probleme auf, die in jeder minderst seriösen Studie zu den kulturellen Erzeugnissen der modernen lateinamerikanischen Völker beachtet werden muss. Den amerikanischen Völkern waren mythische Erklärung keineswegs Fremd, wenn auch deren Mythen nicht gänzlich mit den Griechischen übereinstimmen. Und doch kannten die Uramerikaner offensichtlich sirenenähnliche Wesen1.

Diese Arbeit setzt sich das Ziel, durch das Verständnis der homerischen Passage über die Sirenen sowie ihrer Bedeutung im Bezug zur Odyssee und zur griechischen Weltanschauung, die moderneren lateinamerikanischen Neubearbeitungen, mit Rücksichtnahme auf ihre europäischen und präkolumbischen Einflüsse, zu erklären. 

2. Der Sirenenmythos in der Odyssee

Die Erinnerung spielt eine zentrale Rolle in der Odyssee. Sie ist nicht nur ein wiederkehrendes Thema —sei es bei den Phäaken, den Sirenen oder den diversen Wiedererkennungsszenen am Ende des Werkes— sondern strukturiert das Epos und verleiht ihm einheitlichen Charakter. Als Odysseus im sechsten Buch, nachdem er die Insel Ogygia und Kalypsos verlassen hat, bei den Phäaken empfangen wird, gibt er seine Identität nicht preis. Doch sind es die Erinnerungen, die im achten Buch aufkommen als Demodokos, der Sänger des Phäakenkönigs Alkinoos, die bereits sagenhafte Legende des trojanischen Pferdes vorsingt, die die Wangen des Odysseus mit Tränen bedecken2. Die Erzählung der eigens vollbrachten Taten wirkt für den Heros identitätsstiftend. Die Geschichte, die erzählt wird, ist die seine und so sind es auch die Leiden, die mit dem Geschehenen in enger Verbindung liegen. Diese intime Verbindung des Odysseus mit dem Erzählten entgeht Alkinoos nicht und so kommt es, dass Odysseus am Anfang des neunten Buches seine wahre Identität offenbart und die Geschichte des Nostos, der Heimfahrt, erinnert und erklärt. Der Aspekt der Erinnerung, die die Musen herbeiführen, hat als Anhaltspunkt für die Identifizierung eines den Sirenen vermeintlich innelebenden musischen Charater gedient. Inwiefern sie jedoch den tatsächlichen Musen der griechischen Mythologie ebenbürtig sind, ist nicht unproblematisch.

Dass Odysseus beim Andenken an seine vergangenen Taten und an seine verstorbenen Gefährten weint, deutet bereits auf die Gefahr, welche die Sirenen verkörpern und auf die später auch Plato hinweisen wird, wenn er im zehnten Buch der Politeia3 auf die Notwendigkeit einer Mäßigung der Gefühle hin deutet. Einen ähnlichen Standpunkt zu den Affekten vertritt später der Lateiner Cicero in den Tusculanae Disputationes. Fern davon, hier einen Widerspruch zwischen den homerischen Lehren und den späteren philosophischen Lehren zu erkennen, denke ich, dass es sinnvoller ist, beide Angehensweisen als verschiedene Fokussierungen desselben Problems zu betrachten. Weder ist der Stoiker in der Lage seine Affekte komplett zu unterdrücken und somit auch diesen Teil seiner Menschlichen Natur zu verneinen, noch liegt dem Materialisten daran, sich ausschließlich an den Affekten jeglicher Art zu verbrauchen. Auch Homer versteht es, das nötige Gleichgewicht zu halten. Einerseits wird die Erinnerung positiv als Grundlage der Identität bewertet: Odysseus muss sich immer wieder durch Taten beweisen, die im Nachhinein verbalisiert werden und in den Erzählungen seinen Charakter und sein Ansehen (κλέος) etablieren. Andererseits erscheint eine endgültige Verbalisierung sowie der damit verbundene Ruhm jedoch in den homerischen Epen stets in Verbindung mit dem Tod. Im elften Gesang der Odyssee schildert Odysseus sein Zusammentreffen mit Achill im Hades4, der es nun bevorzugen würde, unter den unrühmlichen Sterblichen auf der Erde zu weilen, anstatt unter den Toten zu herrschen. Die Sirenen werden ihrerseits als gefährliche, schmeichelnde Wesen beschrieben:

«Σειρῆνας μὲν πρῶτον ἀφίξεαι, αἵ ῥά τε πάντας
ἀνθρώπους θέλγουσιν, ὅτις σφέας εἰσαφίκηται.
ὅς τις ἀιδρείῃ πελάσῃ καὶ φθόγγον ἀκούσῃ
Σειρήνων, τῷ δ’ οὔ τι γυνὴ καὶ νήπια τέκνα
οἴκαδε νοστήσαντι παρίσταται οὐδὲ γάνυνται [...]»5

«δεῦρ’ ἄγ’ ἰών, πολύαιν’ Ὀδυσεῦ, μέγα κῦδος Ἀχαιῶν,
νῆα κατάστησον, ἵνα νωιτέρην ὄπ’ ἀκούσῃς.
οὐ γάρ πώ τις τῇδε παρήλασε νηὶ μελαίνῃ,
πρίν γ’ ἡμέων μελίγηρυν ἀπὸ στομάτων ὄπ’ ἀκοῦσαι·
ἀλλ’ ὅ γε τερψάμενος νεῖται καὶ πλείονα εἰδώς.
ἴδμεν γάρ τοι πάνθ’, ὅσ’ ἐνὶ Τροίῃ εὐρείῃ
Ἀργεῖοι Τρῶές τε θεῶν ἰότητι μόγησαν,
ἴδμεν δ’, ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ.»6

Die Sirenen sind also Sinnbild der Gefahr, sich von der Erinnerung soweit treiben zu lassen, dass man die unmittelbare Gegenwart und mit ihr auch die Zukunft aus den Augen verliert. Das Verharren in der Erinnerung vergangener Taten, insbesondere vergangener Leiden, führt zu einer Art Selbstzerstörung und, wie es die verwesenden Körper auf der Insel der Sirenen andeuten, zum Tod. Die Bedrohung ist subtil und wird sogar als verführerisch vorgestellt. Keinesfalls handelt es sich um gewalttätige Wesen und es ist sogar fraglich, ob sie den Vorbeifahrenden überhaupt in irgend einer Weise feindlich gesinnt sind. Aus dem Text der Odyssee kann nicht hervorgehen, dass sie selber durch das Verschmachten ihrer vermeintlichen Opfer jegliche Vorteile erlangen. Dass die leblosen Körper ihnen als Aß zunutze kommen, ist eine Möglichkeit, die in der Literatur erst später auftaucht, beispielsweise bei Plinius dem Älteren, der in der Naturalis Historia7 referiert, dass dem griechischen Geschichtsschreiber Dinon8 zufolge die Sirenen in Indien lebende Wesen sind, die ihre Opfer mit ihrem Gesang in den Schlaf wiegen, bevor sie sie zerfleischen. Cicero bringt in De Finibus9 das Verheeren der Opfer an den Sirenen in Verbindung mit jenem dem Menschen angeborenen Wissensdurst. Auch Odysseus verspürt bei den Versprechen der Sirenen das Verlangen nach Wissen. Lediglich die Stricke, die ihn wie in einem Fischernetz zurückhalten, unterbinden den Drang.

Auch ist in Zusammenhang mit der verführerischen Anziehungskraft der weibliche Charakter der Sirenen hervorzuheben. Unbeachtet der Tatsache, dass, wie Ernst Buschor beschreibt10, sirenenartige Wesen in frühen archäologischen Funden oft mit Bart dargestellt sind, ist es möglich, das Weibliche als Bestandteil der Identität der Sirenen zu betrachten. So werden sie bei Homer vorgestellt und so geprägt ist auch das Bild, das sich von je an durchgesetzt hat. Diese Weiblichkeit wird in der modernen lateinamerikanischen Literatur auf unterschiedliche Weise behandelt, je nach dem Geschlecht oder sexuellen Identität des Autors.

3. Wandelnde Formen der Sirenen

Es ist möglich anzunehmen, dass die Sirenen als mythische Mischwesen in der griechischen Tradition eine eigene, von der Odyssee unabhängige Existenz genossen. Das häufige auftreten von Vogelmenschen mit Gesichtsbehaarung in der protoklassischen Keramik, wohl an orientalische Vorbilder angelehnt, sowie die später auftretende Verbindung der weiblichen Sirenen mit dem Totenkult deuten auf eine solche Unabhängigkeit an. Wie Sirenen in Griechenland allgemein verstanden und welche Konzepte mit ihnen in Verbindung gebracht wurden ist kompliziert nachzuvollziehen und auch in der Forschung umstritten. Wenn man sich jedoch lediglich auf die Literatur konzentriert, ist es durchaus möglich, Kontinuitäten zu erkennen und diverse Wandelungen bis zur zeitgenössischen Literatur nachzuvollziehen.

Obgleich die formelle Beschreibung der Sirenen in der antiken griechischen und römischen Literatur bis zur Spätantike größtenteils unverändert bleibt, lohnt es sich einerseits die literarischen Parallelen zur in archäologischen Funden bezeugten allgemeinen Wahrnehmung der Sirenen darzustellen, sowie andererseits auf die Koexistenz und der daraus womöglich folgenden Verwechslung verschiedener Wesen aufmerksam zu machen.

In der ersten Linie wäre die Helena11 des Euripides zu lesen, vom ausgehenden vierten Jahrhundert vor Christus. Als Helena, die durch Hermes nach Ägypten gebracht wurde während Paris ein Scheinbild raubte, von Teukros die Nachricht erhält, dass ihr Gatte Menelaos nicht aus Troja zurückgekehrt sei, bricht sie in Klagen aus, bei denen sie die Sirenen, die Töchter der Erde herbeibeschwört und sich wünscht, dass die Todeschöre der Persephone ihr eigenes Leben besiegeln. Der Text setzt demnach Sirenen und Tod in eine direkte Beziehung. Wenn im folgenden dieser Aspekt auch nicht im Vordergrund steht, so ist doch der bereits kommentierte Gefahrenfaktor zu bedenken, den die Sirenen auch hier symbolisieren.

Apollonios Rhodos erklärt in seiner Argonautika12, wie Orpheus mit seinem Gesang die Sirenen übertonte und somit seine Gefährten, außer Butes, rettete. Interessanterweise umgeht Apollonios eine Erläuterung des Todes anhand der Sirenen, indem er schreibt, dass Aphrodite den Butes durch Mitleid rettete und mit der Strömung an Land leitete. Vermutlich war ihm klar, dass einerseits ein schneller Tod durch die Sirenen mit der homerischen Erklärung nur schwer in Einklang zu bringen wäre, andererseits die morbide Beschreibung eines langsamen Todes durch Verwesung nicht den Heroen der Argo entsprechen würde. Diese Szene wird in der Odyssee selbst erwähnt, und die Argo wird als das einzige Schiff beschrieben, das an den irrende Klippen vorbeisegelte13. Apollonios hat Interesse daran, sein den alten Epen nachempfundenes Werk an der homerischen Tradition anzuknüpfen. Auch deshalb lassen sich bei ihm, anders als bei Euripides oder später bei den Lateinern, kaum Unterschiede in der Darstellung der Sirenen in Bezug zu Homer auffinden.

In der römischen Kaiserzeit zeichnet sich der Umgang mit dem Sirenenstoff durch eine Anpassung an die jeweilige Funktion des Werkes aus. Neubearbeitung und -Anordnung der Mythen sowie Zusammenfassungen und Kataloge prägen nun das Nachleben der Mischwesen.

Im dritten Buch der Aeneis14 werden die Weissagungen des Königs Helenos im Bezug auf die Schiffahrt nach Mittelitalien, an Sizilien vorbei, wiedergegeben. Er liefert Aeneas eine Beschreibung von Skylla und Charybdis, die Sirenen finden jedoch keine Beachtung, wohl deshalb, weil, wie Apollodor in seiner Bibliothek beschreibt, zu der zeit des Vergils vermutlich schon die Vorstellung herrschte, dass die Sirenen mit dem Überleben des Odysseus und seiner Gefährten dem Tod geweiht waren. Darauf deuten auch einige Verse im fünften Buch15 hin, wo die Felsen der Sirenen als in der Gegenwart nicht mehr gefährlich beschrieben werden. Diese Verdrängung der Sirenen, zusammen mit einer genaueren Beschreibung der Skylla, die als Mischwesen aus einer schönen Frau und grauenhaftem Fisch beschrieben wird, lassen den Verdacht schöpfen, dass spätere Leser Schwierigkeiten hatten, beide Wesen auseinander zu halten. Ein ähnlich grauenhaftes Wesen wird gleich am Anfang der Ars Poetica16 des Horaz herbeigeschworen, um das Lächerliche in einem schlecht proportionierten Wesen zu verdeutlichen. Die Kombination von Frau und Fisch ließ den antiken Leser höchstwahrscheinlich an Skylla denken —so ist der Text wahrscheinlich auch zu verstehen— jedoch ist es nicht auszuschließen, dass spätere Leser hier die Beschreibung einer Sirene sahen.

Hygin17 und Apollodor18 geben in ihren Werken die bereits bekannten Erzählungen wieder, der eine im Kontext einer Zusammenfassung der Odyssee, der ander in einer Auflistung verschiedener Wesen. Ovid19 greift ebenfalls auf die altbekannte Form der Sirenen als Vogelfrauen zurück, versucht jedoch gleichzeitig eine aitiologische Erklärung für ihr Erscheinungsbild abzugeben. Den Sirenen wurden Flügel vergeben um Proserpina, die von Pluto in die Unterwelt entführt worden war, auch auf den Meeren suchen zu können. Das Verführerischen in ihrer Stimme wäre auf die Notwendigkeit, andere zum suchen aufzufordern, zurückzuführen. Der grausame Charakter, den die Sirenen ja in der Odyssee zu haben scheinen, ist hier vollkommen ausgeblendet.

Das erste literarische Zeugnis, in dem die Sirenen explizit als Mischwesen von Frau und Fisch dargestellt werden, ist ein Text eines unbekannten Autors aus dem ausgehenden siebten Jahrhundert nach Christus, das Liber monstrorum de diuersis generibus20. Von da an fand das Bild der Sirenen als Nixen weite Verbreitung, vor allem im Mittelalter. Andere Texte, die dies bezeugen, sind La genealogia de gli dei de gentili21, von Giovanni Boccaccio, sowie das Emblematum liber22 von Alciato:

Dice Ouidio che queste furono copagne di Proserpina, e che essendo rapita, la cercarono molto, la quale non potedo da loro essere ritrouata, furono a la fine conuerse in marini mostri che hanno la faccia di donzelle, e il corpo fino all’ ombelico di femina, da indi in poi sono pesci [...].

Bild 2: Emblema CXVI.

Absque alis uolucres, et cruribus absque puellas,
   Rostro absque et pisces, qui tamen ore cantant,
Quis putat esse ullos? Iungi haec natura negauit:
   Sirenes fieri sed potuisse docent.
Illicium est mulier quae in piscem desinit atrum,
   Plurima quod secum monstra libido uehit.
Aspectu, uerbis, animi candore trahuntur,
   Parthenope, Ligia, Leucosiaque uiri.
Has Musae explumant, has atque illudit Ulysses:
   Scilicet est doctis cum meretrice nihil.

Auch wenn die körperliche Form der Sirenen in diesem Werk keine weitere Beachtung findet, soll auch erwähnt werden, dass Luís Vaz de Camões in seinem 1572 veröffentlichtem Werk Os Lusíadas23 —das dem portugiesischem Klassizismus anzurechnen ist und der klassischen griechischen und lateinischen Tradition stark verschuldet— eine Sirene als die Taten und Entdeckungen der portugiesischen Erkundiger prophezeiende Nymphe präsentiert. Interessant zu vermerken ist hierbei, dass die Sirene nicht, wie in der antiken Tradition, vornehmlich Vergangenes erzählt, sondern die Zukunft (die dem Leser des Werkes vom Camões im zehnten und letzten Buch allerdings schon bekannt sein dürften) vorhersagt.

Mit der Christianisierung des Themas durch Pedro Calderón de la Barca in seinem Werk El golfo de las Sirenas24, aus dem siebzehnten Jahrhundert, ist es möglich, die Sirenen als festes Bestandteil auch der spanischsprachigen Literatur anzuerkennen. Der Odysseusmythos und sein heldenhaftes Überstehen von Sirenen, Skylla und Charibdis wurde bereits durch Pérez de Moya25 als Beispiel für das Verhalten eines weisen und gescheiten Menschen gegenüber den Versuchungen der irdischen Welt interpretiert. Von nun mutieren die Sirenen in dieser Tradition also zur Versinnbildlichung aller Übel und werden somit von der christlichen Moral als schändlich dargestellt. Auch Diego López26 würde die Sirenen als „rameras“ (Freudenmädchen) bezeichnen und beruft sich hierfür auf den heiligen Isidor.

4. Sirenen in der neuen Welt

Im Eintrag zum Mittwoch, dem neunten Januar 1493, aus dem Diario de la primera navegación27, dem wohl verlorengegangene Texte von Cristóbal Colón selber unterlagen, das üblicherweise Bartolomé de las Casas zugeschrieben wird und von Martín Fernández de Navarrete 1825 ediert wurde, ist von „serenas“ die Rede. Colón glaubte demzufolge, in der Gegend der Karibik Sirenen gesehen zu haben. Unabhängig davon, dass, so wie Navarrete selber kommentiert, es sich wohl um Seekühe handelte, ist die Analogie bemerkenswert. Henríquez Ureña28 versucht diese durch Reminiszenzen von Lektüren des Plinius und Marco Polos zu erklären.

Zur Existenz von sirenenartigen Wesen in den präkolumbischen Kulturen selber lässt sich aufgrund des komplexen Zugangs zu den zudem geringem überlieferten Material wenig genaues sagen. Aufgrund von den Theorien von Maurice Gaudelier und Claude Lévi-Strauss29 ist anzunehmen, dass mythische Erzählungen auch vor der Ankunft der Europäer in Amerika verbreitet waren und ähnlichen Mechanismen wie in Europa unterlagen. Das analogische Denken, die Logik der Metapher und der Metonymie würden in diesem Sinn auch dort ihren Ausdruck in verschiedenartigen übermenschlichen Mischwesen finden. Eine direkte Gleichstellung zwischen Sirenen und einem anzunehmenden Äquivalent soll jedoch an dieser Stelle nicht durchgeführt werden. Die Kenntnisnahme der Existenz einer den Ureinwohnern Amerikas eigenen Mythologie und ihres Einflusses in die auf die Kolonisierung folgende kulturelle Entwicklung soll für die Zwecke dieser Arbeit genügen.

Der Anthropologe George M. Foster versucht, die Beziehungen zwischen den Prozessen der Eroberung und der kulturellen Entwicklung zu verdeutlichen. Die dominante Kultur sendet Einflüsse aus, die die dominierte Kultur empfängt, verarbeitet und in einer kolonialen Kultur kristallisiert. Dadurch ergibt sich einerseits bei der Sendekultur eine Vereinfachung und Auslese der zu übermittelnden Inhalte (zum Teil formell, zum Teil informell), andererseits beginnt bei der Empfängerkultur ein langwieriger Prozess der Akkulturation, wodurch viele ursprünglich eigene Elemente ersetzt, angepasst oder verdrängt werden. Foster deutet außerdem auf eine besonders akzentuierte kulturelle Spaltung der Kolonialgesellschaft hin, die besonders stark zwischen Folklore und Bildungsschichtlichem, zwischen Ländlichem und Urbanem differenziert. Annamaria Lammel spricht in diesem Zusammenhang von Prozessen der Transkulturation, bei denen in sozial und ethnisch fragmentierten Gemeinschaften „multiforme Texte“ entstehen, also Erzählungen, denen unterschiedliche Einflüsse unterliegen und je nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht in unterschiedlichen Kontexten differenziert gelesen werden.

Darüber hinaus sind nach der Eroberung Sirenen ikonographisch vor allem in Mexiko nachweisbar, wo die den Ureinwohnern eigenen Mythenwesen mit dem Kult an die katholischen Heiligen in Symbiose ging30.

5. Unabhängigkeit und Identitätssuche

Bild 3: Joaquín Torres García: América invertida.

Die Kultur Lateinamerikas wurde bis in das achtzehnte Jahrhundert wie bereits angedeutet stark kolonial von Spanien und Portugal geprägt. Politische Umwandlungen in den Metropolen erodierten jedoch auch die kulturelle Vormacht der Kolonialherrscher im neuen Kontinent. Die vom König Carlos III veranlasste Vertreibung der Jesuiten aus Spanien im Jahr 1767 heizte die Bestrebungen nach einer von Spanien unabhängigen Zukunft in Amerika an. Der Orden hatte maßgeblich zur Christianisierung der eroberten Gebiete beigetragen und übte dementsprechend auch große Macht über die amerikanischen Ländereien aus. Die Nachrichten über die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten im Norden Amerikas gelangten auch in den Süden und die Bestrebungen Spaniens, die Kolonien soweit wie möglich von dem internationalen Geschehen abgeschottet zu halten waren immer aussichtsloser. Der Prozess der Unabhängigkeiten, der in den verschiedenen Virreinatos nicht immer synchron und mit gleichem Erfolg verlief, war Anfangs vor allem politischer und wirtschaftlicher Natur. Der Einmarsch Napoleons in Spanien und die darauf folgende dynastische Unsicherheit entzog der spanischen Hoheit ihre in vielen Bevölkerungsteilen bereits seit Längerem angezweifelte Legitimität. Unter der militärischen Führung von caudillos, wie José de San Martín, Simón Bolívar, Antonio José de Sucre, Agustín de Itúrbite oder José Gervasio Artigas, vollzogen sich hauptsächlich zwischen den Jahren 1810 und 1830 die Auseinandersetzungen, die letzten Endes zu den Unabhängigkeiten der spanischsprachigen Republiken führten. Es gelang der portugiesischen Dynastie ihrerseits die Unabhängigkeit Brasiliens nach militärischen Auseinandersetzungen auf institutioneller Lage zu regeln, indem der König João VI von Portugal seinem Sohn Pedro den Titel Príncipe Regente do Brasil verlieh.

Mit Erlangen der Unabhängigkeiten wendeten sich die Gemüter erstmals von Spanien ab und suchten im sich wandelnden Europa ihre Vorbilder. Stark war vor allem im Südkegel das Empfinden, man müsse sich von der „Barberei“, also den noch verbliebenen und verstreuten Ureinwohnern, abgrenzen und sich der (europäischen) „Zivilisation“ zuwenden, um eine vermeintlich legitime und den alten Machthabern ebenbürtige Grundlage für die Existenz der entstehenden Nationen zu schaffen. Auch wirtschaftliche und politische Interessen spielten eine Rolle in den militärischen Kampagnen von dem Argentinier Juan Manuel Rosas gegen die Indios. Liberale warfen ihm allerdings schnell vor, sich nicht in genügendem Maße für Anreize an ausländische (vor allem europäische) Investoren und Migranten einzusetzen und das Land im Provinzialismus verfallen zu lassen. Aus solcherart Gesichtspunkten würde schon bald eine Spannung entstehen, die die Frage der nationalen Identitäten zwischen dem Europa zugewandtem und dem amerikanistischen Stellungen aufwerfen würde. Von der europäischen Romantik beeinflusst, schreibt Esteban Echevarría31, der in den zwanziger Jahren in Paris studierte, in seinem Essay Fondo y forma en las obras de imaginación im Bezug zum Wesen Lateinamerikas:

ninguna forma antigua le cuadra, y henchida de savia y sustancia como la vegetación de los trópicos, debe brotar y crecer vigorosa y multiforme, manifestando en la variedad, contraste y armonía de su externa apariencia, todo el vigor y fecundidad que en sí entraña.

Andere Autoren wie Domingo Faustino Sarmiento würden den Interessenfokus auf den Charakter der ländlichen Leute setzen, in Argentinien vornehmlich auf die gauchos. Im Folgenden ist es diesbezüglich interessant zu beobachten, wie verschiedene Autoren mit dem klassischen griechischen und römischen Mythen umgehen und sie sich zu eigen machen.

6. Sirenen ab dem Modernismo

Der Modernismo im spanischsprachigem Amerika ist nur bedingt als einheitliche literarische Strömung zu behandeln, da er vor allem durch starke indivuelle Persönlichkeiten geprägt wurde. Im Bezug zum Romantizismus, der einer bereits verschwundenen gesellschaftlichen Stabilität nachträumte, zeichnet sich der Modernismo durch einen genuin „neuen“ Charakter aus. Im Werk von Rubén Darío kristallisiert sich erstmals eine Art Neuasulegung klassischer Stoffe in einem amerikanisch gewolltem Sinn. Darío schreibt in seinem 1888 erschienenem Geschichten- und Gedichtbuch Azul... über Schlösser, Gärten und Tropen, die der Europäischen Romantik als Schauplätze der Identitätssuche gedient hatten, in Lateinamerika jedoch nicht in der literarischen Tradition vorhanden waren. Die Erzählung La ninfa, mit dem Untertitel Cuento parisiense, weist starke parnassianistische Züge auf und knüpft somit direkt nicht nur an die französische Literatur der Zeit, sondern auch an die klassischen Mythen der Antike. Eine heterogene Gruppe von Künstlern und Dichtern nehmen an einer Versammlung in dem Schloss, das Lesbia vor Kurzen gekauft hatte32, teil. Ein Weiser hält Vorträge über die verschiedensten Künstler und Philosophen, wird aber bald von der lachenden Lesbia unterbrochen, die genug von dem Plaudern hat. Sie würde sich liebend gerne einem Satyrn hingeben und wird dann wieder vom Weisen unterbrochen, der ermahnt:

¡Bien! Los sátiros y los faunos, los hipocentauros y las sirenas han existido, como las salamandras y el ave Fénix.

Daraufhin bricht ein großes Gelächter aus. Aber der Weise bleibt dabei, es gebe keinen Grund die Existenz derjenigen anzuzweifeln, die von den Alten besungen wurde. Doch Lesbia merkt wohl, dass der Erzähler, der ja selber am Abend teilnahm, misstrauisch bleibt, spricht ihn direkt an und versichert ihm, er würde sie mit eigenen Augen sehen. Darauf folgt eine Epiphanie, in der der Erzähler im üppigen Garten des Schlosses die Nymphe Egeria sieht. Lesbia entgeht die Veränderung, die der Dichter nach dieser Erfahrung durchgemacht hat, nicht, ruft ¡el poeta ha visto ninfas! und lacht.

Hier werden Sirenen in einem weiten Sinn und zusammen mit anderen Mischwesen der Antike als Sinnbilder der imaginären Kraft benutzt und literarisch ausgespielt. Auch deshalb ist es nicht falsch, zu behaupten, dass Rubén Darío mit seinem Werk einen bedeutenden Grundstein für die spätere lateinamerikanische Literatur setzte und dies nicht zuletzt dank der griechischen Materialien, die er ausgiebig ausschöpfte.

Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beginnen in Lateinamerika auch weibliche Stimmen ihren Platz einzunehmen. Die Umstände der Gesellschaften, in denen sie sich formten, konditionierten ihr, aus heutiger Sicht zwar mäßig, zu jener Zeit aber als revolutionär empfundenes Auftreten. Die uruguayische Dichterin Delmira Agustini erlangt Aufmerksamkeit mit Gedichten, in denen die Frau erstmals nicht als passives Objekt der männlichen Begierde, sondern als aktives Subjekt mit starker Leidenschaft auftritt. Dort33, wo in ihrer Poesie Sirenen auftauchen, sind sie stets positiv konnotiert, auch hier in Rahmen blühender Schlosslandschaften, im bewegten Meer ihrer Gefühle. Der moralisch negativ konnotierte Charakter, der den unkeuschen Sirenen im katholischen Spanien angerechnet wurde, spielt den Dichtern dieser Generationen in ihrem Rebellionssinnen in die Hände. Auch die etwas spätere argentinische Dichterin Alfonsina Storni34 fand im Sinnbild des Meeres35 und der Sirenen einen Ausdruck ihrer neuentdeckten Feminität, die im Nachhinein und mit Blick auf ihr tragischen Tod einen ganz besonderen Charakter erhielt.

Besondere Erwähnung verdient der Roman der Brasilianerin Clarice Lispector, Uma aprendizagem ou O livro dos prazeres. In diesem Werk wird das Schema der Beziehung zwischen Odysseus und den Sirenen, das an sich bereits recht kompliziert erschien, noch einmal umformuliert. Ein Mann namens Ulisses trifft sich mit einer Frau namens Lóri (was von Loreley abzuleiten ist). Jedoch ist es der Mann, der die Frau durch Reden verwirrt und verführt, während die Frau auf ihre Sinne setzen muss, um in diesen Liebesbegegnungen souverän zu bleiben. Aktive und passive Rollen36 sind nicht klar zu unterscheiden und Lispector schafft es, den Leser eben über ein intuitives Schreiben zur Erkenntnis, zur apredizagem über die Liebe und das Verlangen, zu führen.

In eine ähnliche Richtung deuten die Erscheinungen der Sirenen in Paradiso, von dem Kubaner José Lezama Lima. Hier wird auch Gebrauch des schlechten Rufes der Sirenen in der christlichen Tradition gemacht, um im Rahmen eines Bildungsromans die erste sexuelle Begegnung zu symbolisieren. Die barocke Bildlichkeit, die den gesamten Roman prägt, findet eben in solch erotischen Szenen eine klare Anwendung. Eine Szene, die erst überschwänglich von einem Dritten erklärt wird, wird direkt darauf von der Wirklichkeit relativiert. Bemerkenswert ist hierbei jedoch, dass dieser erste sexuelle Begegnung auch in der dargestellten „Wirklichkeit“ literarisch bleibt: es ist immer noch die Rede von Sirenen, nur verschlechtern sich ihre Attribute. Später noch macht Lezama Lima Gebrauch von der wissenschaftlichen Geschichte der Sirenen und thematisiert deren Anatomie in einer philosophischen Untersuchung zur Poesie und konstruiert damit einen metaliterarischen Diskurs, wobei Anspielungen auf die Ars Poetica oder die mittelalterlichen Bestiarien zu erkennen sind.

Jorge Luis Borges hat sich in dem Band El libro de los seres imaginarios (1953) ebenfalls mit den Mischwesen verschiedener Mythologien auf einer metaliterarischen Weise befasst. Allein die Tatsache, ein solches Buch zu schreiben, verweist auf eine Tradition, die mit dem bereits erwähntem Liber monstrorum de diuersis generibus einsetzt. Borges vermischt wie üblich Literatur mit geschichtlichen Anekdoten und offenbart dem Leser für beide Genera einen gleichwertigen Realitätsanspruch. Er beginnt seine Aufzählung mit dem Satz:

A lo largo del tiempo, las Sirenas cambian de forma.

Borges ist Meister darin, Realität und Fiktion in literarischer Form zu vereinen. Wenn sein Bestiario auf den ersten Blick wie eine nüchterne Zusammenstellung verschiedener mythischer Erzählungen wirkt, darf der Leser nicht verkennen, dass es sich eben nicht um eine die Tradition relativierende oder vergleichende Erzählung handelt. Borges gibt das wieder, was andere Autoren vor ihm berichten, doch wird die Existenz selber der Sirenen nicht angezweifelt. Gleich der erste Satz setzt ihre Wahrhaftigkeit voraus: die Sirenen wandeln ihre Form. Implizit darf man wohl verstehen, dass die Sirenen ein von den verschiedenen Wahrnehmungen unabhängiges Dasein genießen. Ihr Erscheinungsbild in der Literatur, die für Borges den einzig gültigen Wahrheitsanspruch darstellt, ändert sich, doch der Eigenname und somit ihre Identität, bleibt derselbe. Wichtig ist in dem Sinn darauf hinzuweisen, dass Borges wohl bewusst Sirenas großschreibt. Es sind somit keine herkömmlichen, unidentifizierte Wesen, sondern schöpfen ihre Identität eben durch ihr kontinuierliches Auftauchen in verschiedenartiger Literatur. Um dies zu belegen, erwähnt er Homer, als su primer historiador, el rapsoda del duodécimo libro de la Odisea, ohne ihn explizit zu nennen. Borges ist sich hier der Unmöglichkeit des Eigennamens bewusst. Weiter geht es mit Ovid, Apollonios Rhodios, Tirso de Molina, Lemprière, Quicherat, Grimal, Strabo, Apollodor, ein Chronist und (ungenannt) Platon. Auch werden Erzählungen aus Wales und den Niederlanden als Quellen dargestellt. Die Spektrumbreite, was die verschiedenen Genera angeht, ist nicht willkürlich und gilt für Borges als Literatur (hecho literario). Dementsprechend ist die Verstörung nachvollziehbar, wenn der Text mit dem Satz schließt:

Sirena: supuesto animal marino, leemos en un diccionario brutal.

7. Schlussfolgerungen

Die Sirenen wandeln ihre Form. Nach Jahrtausenden strahlt die Bildlichkeit der Antike immer noch neue Gestalten in die Gegenwart. Man fühlt sich als Leser lateinamerikanischer Literatur dazu geneigt, in den neueren Texten ein literarisches Selbstbewusstsein zu erkennen, das es überhaupt erst möglich macht, von Neuinterpretierungen —und nicht von Kopien oder Nachahmungen— zu sprechen. Der überlieferte Textcorpus der griechischen und römischen Antike wird neugelesen, neugedeutet und neugeschrieben. Die ursprünglichen Aussagen mögen trotz lobenswerter und der Fortführung würdigen Anstrengungen verhüllt bleiben. Die lateinamerikanische Literatur hat es geschafft, sich souverän eben in dieses Spiel zu begeben: der Charakter der Sirenen bleibt diffus. Wir lernen nichts Neues über ihre Formen, Eigenschaften oder Absichten. Doch ist es eben in der gut bedachten Ignoranz, in dem mit Vorsicht behandeltem Verständnis der uns vorliegenden Texte, wo sich das lebendige Bildnis, das literarische Bildnis der homerischen Sirenen verbirgt. Homer liefert selber keine genaue Beschreibung dieser Mischwesen. Der grammatische Dual lässt darauf schließen, dass es zwei waren. Hier endet alle Sicherheit. Die fehlende Genauigkeit verleiht der Textpassage (sowie der Odyssee im Allgemeinen) den Charakter, der eine tiefgründigere Beschäftigung belohnt. Homer spricht nicht über Vogel- oder Fischwesen, der Dichter des zwölften Gesangs gibt keine genauen Koordinaten, die auf eine konkrete Lokalisierung der Insel schließen ließen. Alle nachträglichen Versuche, Genaueres zu bestimmen, verlieren sich im Meer der Literatur und tragen lediglich zum undefinierbaren Charakter der Sirenen bei. Homer lässt die Sirenen selber reden und ihre Wörter verführen.

Je mehr Sekundärliteratur man zum Thema liest, umso klarer erscheint dem Leser die Reichweite der eigenen Unkenntnis. So erreichen uns noch heute die Stimmen der homerischen Sirenen und drohen, uns ins Leere zu stürzen. Nicht immer stehen Mäste und Weggefährten zur Verfügung, um einen eilend zur Seite zu stehen und enger anzubinden. Vielleicht war es ihre Stimme, die Alfonsina Storni an jenem 25. Oktober vom Ozean her zurief.

Die lateinamerikanische Literatur kann in dem Zusammenhang auch als Orpheus verstanden werden, der, angespornt von der Gefahr der Sirenen aber ohne sie zu leugnen oder minder zu schätzen, den Versuch anstellt, sie mit seinem Klang zu übertreffen.

Quellen

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Pietro Pucci: The song oft he Sirens. In S. L. Schein: Reading the Odyssey. Selected interpretative essays. Princeton, 1996. Seiten 191 bis 201.

P. Calderón de la Barca (ed. S. L. Nielsen): El golfo de las Sirenas. A Critical Edition with Introduction and Notes. Edition Reichenberger, Kassel, 1989.

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Jorge Luis Borges (ed. A. Bioy Casares): Obras completas. Emecé Editores, Buenos Aires, 1979.

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Perseus Collection, Greek and Roman materials (Stand: 15. November 2015) http://www.perseus.tufts.edu/hopper/collection?collection=Perseus:collection:Greco-Roman.

Bilder

Titelbild: Fotogramm aus dem Film Lucía Puenzo: El niño pez. Argentina, 2009. bilder.buecher.de (Aufgerufen am 16. Januar 2018). http://bilder.buecher.de/zusatz/28/28949/28949841_deta_3.jpg

Bild 1: Römisches Mosaik. Bardo Museum, Tunis. Wikipedia Commons (Aufgerufen am 17. Januar 2018). https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Boat_Mosaic_%282680232163%29.jpg

Bild 2: Emblema CXVI aus dem Emblematum libellum von Andrea Alciato. 1546. Alciato's Book of Emblems The Memorial Web Edition in Latin and English (Aufgerufen am 16. Januar 2018). https://www.mun.ca/alciato/images/l116.gif

Bild 3: Joaquín Torres García: América invertida. 1943. Museo Joaquín Torres García, Montevideo. Hyperallergic (Aufgerufen am 16. Januar 2018). http://hyperallergic.com/wp-content/uploads/2016/01/torresgarcia40.jpg

Anmerkungen

  1. 1 Zu solchen Wesen (Ixpayixnatixkán, Iemanjá, Sereias oder Mãe d’Água), cf. Félix Báez-Jorge: La voces del agua. El simbolismo de las Sirenas y las mitologías americanas. Universidad Verarcuzana, Ciudad de México, 1992. Seiten 117, 176 et ss.
  2. 2 Über das Weinen und die Affektivität im Odysseus-Mythos, cf. Matteo Nucci: Le lacrime degli eroi. Eniaudi, Torino, 2013.
  3. 3 Pl. Resp. X, 603e.
  4. 4 Hom. Od. XII, 488 et ss.
  5. 5 Op. cit. XII 20 bis 24. Kirke warnt Odysseus vor den Sirenen.
  6. 6 Op. cit. XII 184 bis 191. Die Sirenen locken mit ihrem Wissen.
  7. 7 Plin. HN X, 69.
  8. 8 Dinon (Δείνων) war der lateinischen Überlieferung zufolge ein griechischer Historiker, der zu Zeiten Philips von Mazedonien wirkte. Dass er die Sirenen in geographisch fern gelegene Länder lokalisierte, ist eine interessante Parallele zu den Beobachtungen, die spanische Entdecker und Chronisten beinahe zweitausend Jahre später in Amerika machen würden.
  9. 9 Cic. Fin. V, 48 et ss.
  10. 10 Ernst Buschor: Die Musen des Jenseits. Verlag F. Bruckmann, München, 1944.
  11. 11 Eur. Hel. 164 et ss.
  12. 12 Ap. Rhod. Argon IV, 891 et ss.
  13. 13 Hom. Od. 69 et ss.
  14. 14 Verg. Aen. III, 420 et ss.
  15. 15 Op. cit. V, 864 et ss.
  16. 16Hor. Ars P. 1 et ss.
  17. 17 Hyg. Fab. CXXV Odyssea.
  18. 18 Apollod. Epit. VII, 18.
  19. 19 Ov. Met. V, 551 et ss.
  20. 20 Moritz Haupt (ed.): Liber monstrorum de diuersis generibus. I, 7.
  21. 21 G. Boccaccio: La genealogia de gli dei de gentili. Venezia, 1569 (Erstausgabe ca. 1360). Cap. VIII. uid http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10205442_00001.html.
  22. 22 A. Alciato: Emblematum liber. Venezia, 1546 (Erstausgabe 1531). Cap CXVI. uid. https://www.mun.ca/alciato/.
  23. 23 L. V. de Camões (ed. A. d. M Rozeira): Os Lusíadas. X, 5, 45 et ss.
  24. 24 P. Calderón de la Barca (ed. S. L. Nielsen): El golfo de las sirenas.
  25. 25 J. Pérez de Moya: Philosophia secreta. Libro IV, Capítulo XLV De Ulises, Madrid, 1585. uid. http://www.revistaazogue.com/libero_fr.htm.
  26. 26 D. López: Declaración Magistral sobre las emblemas de Andrés Alciato. Emblema 114, Nájera, 1615. uid. https://archive.org/details/declaracionmagis00alci.
  27. 27 C. Colón und B. de las Casas (ed. M. Fernández de Navarrete): Diario de a bordo de la primera navegación.
  28. 28 J. Durand: Ocaso de Sirenas. Manatíes en el siglo XVI. Tezontle, México, 1950. Seite 22.
  29. 29 Hierzu cf. Félix Báez-Jorge: Las voces del agua. El simbolismo de las Sirenas y las mitologías americanas. Universidad Veracruzana, Ciudad de México, 1992. Seiten 19 et ss.
  30. 30 Hierzu, siehe Ursula Thimer-Sachse: Sirenas en el arte de la nueva España. uid. http://cjv.file1.wcms.tu-dresden.de/publikationen/Mitteilungen%202004/01%20Thiemer-Sachse.pdf.
  31. 31 Das folgende Zitat wurde dem Werk Jean Franco: Historia de la literatura hispanoamericana. Editorial Ariel, Barcelona, 1987. Seiten 58 et ss. entzogen.
  32. 32 Hier ist eine interessante Anspielung auf den bürgerlichen Charakter der Selbstdarstellung etablierter Kulturkreise Lateinamerikas zu bemerken. Darío spielt mit den europäistischen Bestrebungen seiner Landsleute.
  33. 33 Wie z.B. in Oh despertar glorioso de mi lira oder Diario espiritual.
  34. 34 Siehe das Gedicht Yo en el fondo del mar.
  35. 35 Die Sirenen wurden bereits in der Antike stets mit Feuchtigkeit und, der medizinischen Tradition entsprechend, demzufolge auch mit dem Weiblichen in Verbindung gesetzt.
  36. 36 Zum Aktiven und Passiven Charakter, siehe E. Cook: „Active“ and „Passive“ Heroics in the Odyssey. CW 93, 1999. Seiten 149 bis 167.

 

Hausarbeit vom fünfzehnten November zweitausendfünfzehn zu der Veranstaltung: Dr. Giulia Maria Chesi: Homer: Odyssee. Humboldt-Universität zu Berlin, Sommersemester 2015.

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