Der Sinn für Humor im Phaidon

1. Einführung

Die enge, Genauigkeit anstrebende Interpretierung eines Autors durch seine Texte ruft Dissonanzen und Widersprüche hervor, die sich wiederum in der Konkurrenz derjenigen spiegelt, die die jeweils voneinander abweichenden Vorgehensweisen und ihre Axiomen und logischen Folgen verteidigen. Diese Art der Unstimmigkeiten in der Hermeneutik eines Textes bringt des Öfteren eine Radikalisierung der Diskussionsteilnehmer in ihrer Haltung mit sich, die den ursprünglichen Text als sekundär relegiert und die Streitigkeiten einer Relevanz bekleidet, die ihnen meistens nicht zusteht und sich von den Grundgedanken der eigentlichen Werke stark distanziert.

Diese Umstände konkret auf Platon zu beziehen ist gewagt und trotzdem kommt es öfter vor, dass über die angeblichen Widersprüche, die die Werke Platons beinhalten, zu Versuchen führen, eine gesamt platonische Ideenlehre zu harmonisieren und die Unstimmigkeiten in ein Korsett des Einklangs zu bringen. So entstehen vereinfachte schematische Zusammenfassung oder gar äußerst komplexe Strukturen, die weit über den pragmatischen Inhalt der platonischen Dialoge hinausführen.

Die Tatsache, dass Unstimmigkeiten oder nicht aufeinander abgestimmte Erzählungen in einem einzigen Dialog zum Vorscheinen kommen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Inkongruenzen von Platon, wenn nicht unbedingt als solche beabsichtigt, wohl von ihm berücksichtigt wurden und in seinem philosophischen Lehrsystem ihren Platz haben. Dieser Ansicht nach gilt es, nicht die Widersprüche zu tilgen oder sie zu korrigieren, sondern ihre Funktion im Dialog und in der platonischen Lehre zu erörtern.

Da das Thema des Phaidon-Dialogs die für den Philosophen richtige Vorbereitung auf den Tod ist, ist größte Seriosität zu erwarten –ein Lateiner würde hier wohl auf die uirtus der grauitas zurückgreifen. Und doch ist es an einigen Stellen zu beobachten, wie Platon sich von seiner eigenen Lehre distanziert und sie dem Leser nahebringt, indem er eine humoristische Annäherung durch die Charakterisierung der Gesprächsteilnehmer versucht. Das scheint nur möglich, wenn der Autor selber sein Wort relativiert. Auch muss sich diese humoristische Annäherung nicht das Lachen des Lesers zum Ziel gemacht haben. Der Autor hatte es viel mehr auf die Sympathie des Lesers abgesehen, jene Sympathie, die höchstens ein einfühlsames Lächeln hervorrufen würde. Eine lockere Angehensweise ermöglicht es auch, dasselbe Thema aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und es so in all seinen Facetten zu ergründen: Diese Art der Distanzierung war vom Autor beabsichtigt und will im Folgenden ergründet werden.

2. Humor und Witz in der Antike

Die Aufgabe, den Humor als Kulturphänomen zu definieren erscheint komplex: nur wenige antike Quellen zeugen von der Existenz einer konkreten und übergreifenden Konzipierung des Humorvollen und meistens weisen die verschiedenen Texte substanzielle Gegensprüche auf1. Der Humor erscheint als Ausdruck einer gelassenen Geisteshaltung in verschiedenen Kontexten und Situationen und ist von diesen Umständen stark abhängig. Das Phänomen zu isolieren und es entblößt zu definieren stellt sich als schwere Aufgabe vor, da es durch diese Dekontextualisierung seinen humoristischen Charakter einbüßt. Allein das Wort Humor an sich bringt einer Studie der Antike Probleme mit sich, da es mit der heutigen Bedeutung einer gelassenen Geistesart erst in der Moderne in Verbindung gebracht wurde und selbst bis heute noch weitgehend unterschiedlichen Vorstellungen unterliegt2.

Während diejenigen, die man aus heutiger Sicht wohl als berufliche Spaßmacher bezeichnen könnte das Lächerliche anstrebten, war in gehobenen Kreisen eine Abneigung gegenüber dieser Art des Humors zu erkennen, die durch Nachahmungen das Lachen bei den Zuhörern zu erzeugen versucht: diese Haltung scheint Cicero in seinem De Oratore einzunehmen, und auch schon vor ihm Platon3. Die an den Höfen der Adligen tätigen κόλακες bedienten sich jener gesellschaftlich niedriger angesehenen Praktiken um sich mit dem Lachen ihrer Herren die Existenz, zumindest für einen Abend, zu sichern4. Dieser Einstellung steht die Auffassung der philosophischen Kreise gegenüber, die sich eher für eine Zähmung des Lachens einsetzt. Und doch lässt sich aus den Umständen, in denen dieses Lächerliche seinen Platz hatte, schließen, dass das Symposion der Kontext war, in dem das, was wir heute als gelassene Geisteshaltung verstehen, praktikabel war.

Der Witz besteht oft in einer Stellungnahme zu einer Realität, die nicht der Norm des Kontextes entspricht. Das heißt, Umstände werden so umgedreht, dass Paradoxen entstehen. Das Ehrwürdige erscheint lächerlich und so behauptet sich der Witz intrinsisch über das Seriöse. Diese ist die Funktion des Witzes für den Redner nach Cicero: vom Gegner im Publikum erweckte Emotionen zu entmachten, indem sie mit ihrer jeweils gegenwertigen Emotion konfrontiert werden5. Darüber hinaus legt sich Cicero jedoch nicht auf ein detaillierteres System fest, das die inuentio oder die dispositio eines Witzes in einer Rede ausgiebiger erläutern könnte. Das Gegenteil ist der Fall: ein solcher Versuch würde unfruchtbar bleiben und höchstens durch den erbärmlichen Mangel an jeglichen komischen Charakter das Lachen hervorrufen. Die Fähigkeit, Lächerliches zum Vorscheinen zu bringen ist eine natürliche Gabe und kann nicht systematisch erläutert werden, so Cicero6.

Die spätere Angehensweise des Quintilian charakterisiert sich, so wie die des Cicero, auf die er sich explizit bezieht, durch ihre rhetorische Optik. Der Witz ist eine der Ressourcen des Redners, die das Auditorium überzeugen sollen. Quintilian riskiert jedoch etwas mehr als sein Vorgänger wenn er behauptet, dass der Witz immer Falsches darstellt7 und dass verschiedene Gemüter sich in Urteilen, denen irrationale Gedankenvorgänge zugrunde liegen, selten einig sind. Auch geht er auf die Ursachen des Lachens ein und stellt fest, dass nicht nur gewisse Aktionen und Wörter das Lachen bewirken. Viel mehr sind es häufig banale Umstände, die diese Reaktion hervorrufen. Somit wird eine wichtige Grundlage für die Konzipierung des Humors in der Antike belegt: das humorvolle wird vom Lachen als physiologisches Phänomen losgebunden. Dieser Fakt ist als wichtig zu bezeichnen, weil er, wenn die Lage der wissenschaftlichen Beschauung des Humors sowohl in der Antike als auch heutzutage eher spärlich ausfällt, ihn doch von der modernen Ansicht, die das Phänomen des Humors als vom Lachen abhängig erscheinen lässt, unterscheidet.

Außerhalb der Rhetorik lässt sich im literarischen Bereich feststellen, dass das komische Lachen8 des Öfteren den Göttern vorbehalten ist. Das unauslöschliche Gelächter der Götter9 steht dem Gelächter der Sterblichen in dem Sinn gegenüber, dass das Lachen bei letzteren lediglich ein Symptom ihrer stultitia und somit ihrer impietas gegenüber den Obigen bleibt. Hier wird darauf hingewiesen, dass das Lachen als physiologisches Phänomen nicht unbedingt auf eine positive Ursache zurückzuführen ist und moralisch sogar als gefährlich gelten kann. Wer den Göttern und ihren Vorhaben entgegenlacht und sie verhöhnt, wie es die Freier am Ende des zwanzigsten Gesangs der Odyssee tun, büßt seine Hybris ein, und wird in diesem Fall von dem gottesfürchtigen Odysseus sogar mit dem Tod bestraft. Die Macht des Lachens, herrschende Strukturen durch ihre Relativierung infrage zu stellen, wurde in der Antike nicht unterschätzt. Diese Ansicht mag wohl auch allgemeine gesellschaftliche Anerkennung genossen haben, vor allem in höheren Kreisen, bei denen das Lachen, wie weiter oben schon angedeutet, als eine eher dem Pöbel zugeschriebene Verhaltensweise wahrgenommen wurde.

3. Der Humor im Phaidon

Mit den Ansichten über den Humor in der Antike kann das Lustige als rein lächerliches verstanden im platonischen Dialog nur bedingt aufkommen, und zwar indirekt in der Charakterisierung einiger der Gesprächsteilnehmer. Wenn jedoch Sokrates selber eine Pointe einwendet wird er in seinem Stil feiner dargestellt, wie man ihn zum Beispiel am Ende des Phaidon-Dialogs erleben wird. Der Witz und der Sinn für Humor ergeben sich im Phaidon aus dem Spiel zwischen der allgemeinen Meinung und der sokratischen, beziehungsweise platonischen Lehre, eine Spannung, die Paradoxen aufwirft.

Am Anfang ist es wichtig auf die dramatische Natur des platonischen Dialogs hinzuweisen da diese ständig den Witz konditionieren wird. Die Form der inszenierten Unterhaltung bietet besonders gute Rahmenbedingungen für literarische Beschreibungen, wie sie sonst nur in Theaterstücken oder im Briefwechsel aufzufinden sind. Die dramatis personae werden hier dadurch definiert, was sie sagen oder wie sie handeln. Vor allem aber werden die Charakterzüge im Phaidon deutlich, wenn man ihre Stellungnahme im Bezug zu den Lehren des Sokrates einschätzt.

Phaidon unternimmt die Einführung in die Umstände der letzten Gespräche mit Sokrates vor seinem Tod und äußert somit gleich die erste wichtige Bemerkung: Sokrates zeigt sich nicht betrübt und auch die Anwesenden empfanden nicht den Mitleid, den man üblicherweise gegenüber dem Tod geweihten Freunden zum Ausdruck zu bringen vermochte10. Gleich am Anfang des Dialogs eröffnet sich dem Leser das Paradoxon, das das ganze Werk in Spannung versetzt und bei jenem, der sich wohl mit dem Echekrates identifizieren kann, das Verlangen nach einer Klärung dieser dem normalen Zustand fremden seelischen Umstände gegenüber dem Tod. Im Folgenden wird also erklärt werden müssen aus welchem Grund Sokrates eine negative Einstellung dem Tod gegenüber nicht nur meidet, sondern sich zu weilen auch offenkundig über sein Schicksal freut. Es ist von Bedeutung hier darauf hinzuweisen, dass Platon mit den Vorurteilen seiner Mitmenschen spielte, da es ihm durchaus bekannt war, dass der Tod in der damaligen Gesellschaft Anlass für Trauer und seelische, oft gestisch übertriebene Schmerzensausdrücke war. Daher rührt wohl auch das Spiel zwischen Lachen und Weinen11. Was den Humor in diesem Zusammenhang angeht, erscheint der Autor in seinem Vorhaben noch feiner und nuancierter dadurch, dass er die tatsächliche gesellschaftliche Einstellung dem Tod gegenüber berücksichtigt, und ihr sogar einen Platz in seinem Werk gibt. Die oben genannte Spannung wird dadurch aufgebaut und es entsteht ein Dialogverhältnis auch über das Formale hinweg. Anstatt die Gegenüberstehenden Ansichten dogmatisch auf das Nichts zu reduzieren und es bei einer Ausstellung der eigenen Ideen zu belassen, werden auch die Widersacher der platonischen Lehre dargestellt, und das nicht ausschließlich als offenkundige Gegner des Sokrates. Seine eigene Frau, Xanthippe, bricht in Klagen aus und muss fortgetragen werden. Gegen Ende des Dialogs können auch die Freunde des Sokrates beim Gedanken an den bevorstehenden Tod ihres Meisters die Tränen nicht zurückhalten und müssen sich dann wieder zügeln. Diese Verhältnisse dürften beim Leser eben die Sympathie hervorrufen, die Platon gegenüber seiner Ideen wohl zu erzeugen versuchte.

Das zweite Paradoxon kommt auf, nachdem Sokrates das Sterben für ein Gut erklärt hat, das der Philosoph nicht scheuen darf. Trotzdem ist es ihm nicht erlaubt, seine Hand auf seinen Körper zu legen und so seinem Leben ein Ende zu bereiten, bevor die Götter es ihm vorgesehen haben12. Die Tatsache, dass der Selbstmord abgelehnt wird, wird schnell von den Anwesenden akzeptiert und durch Kebes auch in Einklang mit der allgemeinen Wahrnehmung gebracht. Aber wieder muss Sokrates, wie vor Gericht, seine Haltung rechtfertigen und hofft diesmal überzeugender vor seinen Freunden zu sein als vor jenen, die ihn zum Tode verurteilten. So relativiert er nochmals seine Situation und sieht es als wichtiger an, vor seinen Freunden Rechenschaft abzugeben, als dass er sich vor den nicht der Philosophie zugewandten hätte rechtfertigen müssen. Im Dialog wendet er sich dafür vor allem an Kebes und Simmias, von welchen zuerst Kebes die volkstümliche Meinung vertritt13. Simmias scheint in dieselbe Richtung zu kommentieren, wie er es in 64b tut, wo er auf das Bild, das die Allgemeinheit von den Philosophen hat, eingeht. Diese würde im Philosophen ein sich nach dem Tode ersehnendes Wesen erkennen, was Sokrates nicht als falsch abtut, dem kommt er jedoch damit entgegen, dass die Leute oft nicht verstehen worauf dieses Ersehnen aufbaut. Darüber gelangt Sokrates zu den Einschätzungen der Philosophen gegenüber materielle Gütern14 und der Wahrnehmung des Wahren15 um, von der Konzipierung des Todes als Loslösung von Körper und Seele, zum guten Charakter des Todes für den Philosophen hinauszukommen16. Auch hier wird stets zwischen der philosophischen, also der wahren Tugend, und der konventionellen Tugend unterschieden.

Nachdem die Ausführungen über die Tugenden akzeptiert wurden wendet Simmias ein, dass man nun Zweifel zur Unsterblichkeit der Seele äußern könnte. Diese Untserblichkeit war in der vorherigen Argumentation unentbehrlich um, mit der Trennung von Körper und Seele nach dem Tod, für eine ausgeglichene Stellung des Philosophen vor seinem Tod zu plädieren. Zumindest in seinem ersten Versuch, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, scheint Sokrates großen Wert darauf zu legen, ernst genommen zu werden17, da das Thema ihn selber betrifft und es nicht einmal von Komödiendichtern als belanglos betrachtet werden kann. Möglicherweise versucht Platon hier jegliche Kritik oder sogar Spott von vornherein abzuwenden, indem er die vermeintliche Seriosität dieses ersten Beweises in den Vordergrund rückt. Er muss sich darüber im Klaren gewesen sein, dass das erste Argument, indem Sokrates behauptet, dass alles von seinem jeweiligen Gegenteil herrührt, nicht komplett gegen Kritik und Einwände zu schützen war. Dass die Seele nach dem Tod weiterlebt gerade weil das gestorben sein dem lebendig sein gegenübersteht wird wohl allgemein als das nicht unbedingt überzeugendste Argument Platons zur Unsterblichkeit der Seele angesehen. Womöglich wird es eben deshalb als erstes Argument aufgeführt.

In 72e erinnert Kebes an die Theorie der Wiedererinnerung, die ein epistemologisches Argument für die Unsterblichkeit der Seele liefern kann. Simmias, der in diesem Abschnitt als mental etwas langsam dargestellt wird, sieht den Zusammenhang allerdings nicht sofort ein und bittet Sokrates, ihn zu erläutern. Somit wird der zweite Beweis zur Unsterblichkeit der Seele eingeleitet. Neben einer ausführlichen Aufführung der Theorie der Anamnese ist in unserem Interesse ein Einwand des Simmias bei 76b hervorzuheben: Sokrates fragt ihn, ob er der Ansicht wäre, dass die Anwesenden in einem späteren Zeitpunkt in der Lage sein würden, ihr Gespräch wahrheitsgetreu wiederzugeben. Simmias bedauert, dass schon am nächsten Tag keiner der Beteiligten in der Lage sein wird, die Diskussion nachzuerzählen. Wenn man bedenkt, dass der ganze Dialog von Phaidon, der er selber keine gewichtige Rolle in der Unterhaltung anführt, beziehungsweise von Platon, der ja angeblich krank war, übertragen wird, dann ist diese Bemerkung im literarischen Konstrukt der wahrheitsgemäßen Erzählung nicht zu unterschätzen. Der Autor verschleiert einerseits seine Rolle als Vermittler durch Phaidon und setzt andererseits auf literarisches Schaffen, um durch die Autonomie seiner Charaktere der Erzählung Glaubwürdigkeit zu schenken: Der Vermittler scheint verschwunden zu sein, wir hören nur noch die Stimmen der Dialogteilnehmer. Wahrscheinlich ließe sich diese Passage auf viele andere Weisen interpretieren. Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme, dass Platon diese Ressource bewusst anwandte, um das Interesse des Lesers von den Fragen der Vermittlung des Textes, die seine Ideenlehre nur indirekt und aus der Sicht der modernen Quellenforschung beeinflusst, auf das Wahre an sich zu lenken. Möglicherweise schrieb Platon, wie schon vor ihm einige Lyriker, mit der Zuversicht, in ferner Zukunft gelesen zu werden: diese wäre die wohl humorvollste Leseart dieses Abschnittes.

Nachdem sowohl Simmias als auch Kebes davon überzeugt wurden, dass die Seele schon vor der Geburt existiert, wendet Kebes ein, dass immer noch nicht geklärt sei, ob die Seele nach dem Tod des Körpers eigenständig fortlebe oder, wie es die Ansicht der Menge darstellt, sie sich nach dem Tod auflöst. In 77d wird erstmals der Vergleich mit den ungläubigen Kindern aufgestellt, die es zu überzeugen gilt. Diese Komparation hat es in sich: nach den Versuchen, die vorherigen Beweise als seriös vorzustellen, wird erstmals eine ganze Untersuchung damit eingeleitet, dass der Zweifel der Zuhörer als kindisch dargestellt wird. Auch hier ergibt sich eine Verzerrung: wer zu dem Punkt angelangt ist und immer noch nicht die Thesen des Sokrates begriffen hat, benimmt sich Kebes zufolge im Grunde wie ein kleines Kind, das vor dem Tod Angst hat, wie vor den Kobolden18. Darauf antwortet Sokrates, man müsse es besingen19, um es fernzuhalten. Wenn die reductio ad absurdum auf den ersten Blick auch nur als rhetorisches Manöver auffällt, meint Sokrates es doch ernst. Er führt die Metapher in einer Allegorie fort, als ihn Kebes darauf anspricht, wo sie denn nun, dass Sokrates sie verlässt, einen so guten Sänger finden sollen. Es gebe nichts besseres, wofür sie ihr Geld besser ausgeben könnten, als nach solch einem zu suchen. Ob Platon damals schon ahnte, was ihm in seinen Reisen nach Sizilien erwartete, sei dahingestellt. In der folgenden Darstellung wird hauptsächlich auf die Ähnlichkeit des Körpers mit dem Vergänglichen und Sterblichen gezielt, um zu beweisen, dass dieser sich auflöst während die Seele, die dem Unsterblichen und Göttlichen nahesteht, unauflöslich ist und fortlebt. Es wird dann20 zwischen verschiedenen Arten der Lösung zwischen Körper und Seele unterschieden, wobei die Schlechtere, nämlich die, bei der die Seele sich in ihrer Lebenshaltung zu sehr an den Körper und seinen Lüsten gebunden hatte, die ätiologische Grundlage zur Erklärung der allgemeinen Angst dem Tod gegenüber fungiert. Auch hier knüpft Platon an das generelle Empfinden seiner Mitmenschen an.

Ab 81e erklärt Sokrates eine für die Platon Forschung problematische Idee der Seelenwanderung. Dieser zu Folge geratet die Seele jener, die kein Philosophisches Leben treiben, nach der Trennung vom Körper in ein Tier, das ihren Taten und Begierden im Vorleben entspricht. Auf diese Idee wird nicht weiter eingegangen, und es ist anzunehmen, dass sie lediglich der Veranschaulichung jener Ideen dient, die im Folgenden21 in ihrer Komplexität erläutert werden. Der Drang des Philosophen nach der Wahrheit an sich ist ein schwierig zu vermittelndes Konzept und Platon scheint Wert darauf zu legen, seine Theorien so verständlich wie möglich aufzuzeichnen. Der Gebrauch des Vergleiches mit Tieren mag als Hinweis dafür dienen, dass Platon in Einsparung der Seriosität versuchte, seine Lehre einem breiterem Publikum nahe zu legen.

Der didaktische Charakter Platons bewährt sich. Er fürchtet anscheinend, immer noch nicht prägend genug seine Ideen vermittelt zu haben und lässt Simmias nachfragen22. Sowohl er als auch Kebes haben Zweifel an dem, was Sokrates dargestellt hat, keiner der beiden will ihn allerdings mit seinen Fragen so kurz vor dem Tod beunruhigen. Dass Sokrates in Gelächter ausbricht, ist verständlich: nach mehreren Versuchen, seinen Freunden klarzumachen, dass es mit dem Tod nichts zu fürchten gibt, da die Seele ja unsterblich ist, sind die beiden in ihrem Innersten noch davon überzeugt, dass es gilt dem Hades mit ehrwürdiger Furcht entgegenzutreten. Sie haben als Dialogpartner zugehört, Einwende gemacht und mitdiskutiert, und trotzdem kaum etwas innerlich begriffen und assimiliert. Wenn Platon seine Dialogpartner so darstellt, dann wohl in der Annahme, dass es unter den Lesern seines Werkes auch einigen Simmias geben könnte. Es ließe sich auch einwenden, dass Platon dieses Unverständnis elegant als Ressource benutzt, um seine Theorien noch ausgiebiger zu erklären. Allerdings erscheint dies fraglich, in Anbetracht der Tatsache, dass der Dialog durch eine mythische Erklärung, die nur metaphorisch interpretiert in die Ideenlehre Platons einzuführen ist, geschlossen wird. Auch folgen wieder Vergleiche mit einem Schwan23, einer Leier24 oder einem Mantel25.

Am Ende von 88c greift Echekrates in die Erzählung des Phaidon ein, als auch er, nachdem er meinte, die Thesen des Sokrates wegen seiner soliden Argumente akzeptieren zu können, in Zweifel gerät. Spätestens hier entblößt sich die Absicht Platons. Es geht ihm nicht um die einseitige Vermittlung eines unbestreitbaren Dogmas, sondern vielmehr um die Darstellung dessen, was er den ganzen Dialog über als philosophische Lebenseinstellung skizziert hat. Der Philosoph hat die Aufgabe, das, was er behauptet, zu begründen, zu hinterfragen und immer wieder in neues Licht zu stellen. Gerade weil es sich bei der platonischen Lehre eben nicht um ein in sich geschlossenes System von Axiomen handelt, ist es umso schwieriger, die Ideenlehre zu vermitteln. Wenn man nun also in Betracht zieht, dass Platon keine schematisierten Inhalte, sondern vielmehr eine Lebenshaltung zu vermitteln hatte, fällt es auch leichter zu verstehen, inwiefern humoristische Angehensweisen seiner Aufgabe zur Hilfe kommen können. Nicht umsonst wird Sokrates von Phaidon in seiner Vorgehensweise als sanft, freundlich und wohlgesinnt dargestellt26. Sokrates beginnt seinen letzten Kampf, mahnt jedoch seinen Mitstreiter Phaidon, sich nicht emotional in die Diskussion einzusteigern27: ein Moderner würde wohl sagen, man nehme es gelassen, mit Humor. Wer Philosophie betreibt, muss stets in der Lage sein, andere Perspektiven einzunehmen und selbstkritisch bleiben28.

Im Folgenden wird auf die Einwände von Simmias eingegangen und es stellt sich heraus, dass die Vergleiche nicht ganz angebracht waren und die Seele nicht zusammengesetzt ist. Trotzdem wurde der Zweifel nicht verworfen, sondern akribisch geprüft. Als Sokrates auf die Einwände des Kebes eingeht, ruft er Erinnerungen seiner Kindheit ins Gedächtnis und schildert den Zuhörern seine Neugier, um den Grund der Dinge zu erfassen. Sokrates mutet sich hier schon vertraut und sogar familiär an, wie er kurz vor seinem Tod seine Jugend in Erinnerung zieht. Auch hier macht Sokrates Gebrauch von Vergleichen und bringt seinen Gesprächspartner durch Drastellung eines Paradoxon zum lachen29. In 102a bestätigt Echekrates den, aus moderner Sicht, divulgativen Charakter der Schrift dadurch, dass er seiner Verwunderung darüber Ausdruck gibt, dass es Sokrates geschafft habe, die Angelegenheit selbst für Menschen geringen Verstandes30 verständlich zu vermitteln. Der frühere Vergleich mit den Kindern klingt hier wieder auf. Sokrates scheut nicht einmal das Lächerliche, wenn es darum geht, eine Idee zu vermitteln.

Um dem Kebes den endgültigen Beweis zur Unsterblichkeit der Seele zu liefern, greift Sokrates wieder auf Gegensätze zurück, achtet aber darauf, dass seine Erläuterungen an diesem Ort nicht mit dem vorher Gesagten in Konflikt geraten. Nachdem die seelische Unsterblichkeit durch die Argumente des Sokrates endlich belegt zu sein scheint, sagt Simmias, dass er sich noch einen Zweifel vorbehalten will31. Sokrates lobt ihn dafür und beginnt32 eine moralisierende Rede über das philosophische und das kriminelle Leben, und welche Auswirkungen die Taten eines Menschen auf das Nachleben seiner Seele hat. Die Erwähnung von bestimmten Regionen der Erde weckt das Interesse des Simmias über das Weltbild des Sokrates, der darauf anfängt, eine mythologische Darstellung der Welt zu geben. Dieser Mythos könnte als organische Geographie der Ideenlehre interpretiert werden, also als Beschreibung jener Orte, in denen sich das ideale verwirklicht. Dass die nicht physische Natur der Ideen infrage gestellt wird, ist auch hier auszuklammern, da es sich wieder um eine Veranschaulichung handelt. Ein Richter entscheidet in 113d je nach Verhalten zu Lebenszeiten über das Schicksal jener Seelen, die nach der Abscheidung vom Körper zu ihm kommen. Auch hier fänden sich Widersprüche zu den über die Seelenwanderung in 81e behaupteten Thesen. Wie jedoch am Anfang dieser Arbeit schon bemerkt wurde, geht es nicht um eine haargenaue Interpretation des Textes, sondern viel mehr um die Erfassung des Grundgedanken. In 114d sagt Sokrates selber, dass es unangebracht wäre, sich auf das Gesagte festzuhalten, sondern um den Glauben an jenen Grundgedanken, sich selber etwas vorsingen33, also gewissermaßen einen „Zauberspruch“ anwenden.

4. Fazit

In 115b, am Ende des Dialogs, redet Sokrates noch ein letztes Mal auf seine Schüler ein und bittet Sie, im Sinne des Gesagten für sich selbst zu sorgen. Als Kriton ihn dann jedoch pragmatisch fragt, wie sie ihn denn zu bestatten hätten, tretet ein Wendepunkt ein, der Sokrates fortan nicht mehr als Philosophen, sondern als Freund erscheinen lässt. Er lacht ein letztes Mal34 und bemerkt selbstironisch, dass er den Kriton wohl nicht mehr davon überzeugen kann, dass er, Sokrates, nicht mit seinem Körper sterben wird, sondern in seiner Seele weiterleben wird. Hier offenbart sich das Tröstliche, das dem ganzen Dialog entspringt. Seine Freunde sollen kein Leid empfinden, wenn sie sehen, wie sein Leib verbrannt wird. Viel mehr sollen sie sich glücklich zeigen, in der Gewissheit, seine Lehren aufgenommen zu haben und auf das Wahre gestrebt zu haben. Und doch bleibt es dann auf das irdische bezogen: Sokrates nimmt ein Bad –möglicherweise ein Symbol für seine seelische Reinheit vor dem Tod– und unterhaltet sich dann mit seiner Familie, bevor der Diener der elf Männer hereintritt und ihn anweist, das Gift zu trinken. Der Diener bittet Sokrates darum, es ihm nicht übel zu nehmen, auf Befehl der Archonten zu handeln, und weint. Nun zeigt sich Sokrates nicht empört, dass der Diener doch nichts von seiner Lehre verstanden habe, sondern lobt seine Ehrlichkeit. Er zeigt ein äußerst humanes Verständnis gegenüber denen, die am Leben festhalten, weil sie es doch so für besser halten. Er allerdings hällt an seinen Ideen fest und ist entschlossen, seinen Tod konsequent durchzuführen. Nach den vielen Zeichen35, die Sokrates als einen vor den Göttern ehrfürchtigen Menschen dargestellt haben, belacht er nun diejenigen die ihn wegen Götterlästerung zum Tode verurteilten und fragt, ob er mit dem Gift ein Trankopfer durchführen kann. Die Menge des Getränks erlaubt dies jedoch nicht, und Sokrates nimmt das Gift ohne Weiteres zu sich. Als alle Umstehenden anfangen, zu weinen, muss Sokrates sie noch ein letztes Mal darum bitten, die Fassung zu bewahren.

Sokrates erlebt (hier ist die Antithese angebracht) einen ruhigen Tod. Doch wieder wird ein Zeichen für diejenigen gesetzt, die ihn zum Tode verurteilten: Mit seinen letzten Worten bittet Sokrates den Kriton darum, dem Asklepios einen Hahn zu opfern. Wohl wird gerade dem Asklepios geopfert, um den Tod des Körpers mit der Heilung der Seele zu konfrontieren. Auch muss in diesem Sinne bedacht werden, dass das Gift in diesen letzten Zeilen stets als τὸ φάρμακον bezeichnet wird, was sich auch als „Heilmittel“ übersetzen lässt. Sokrates muss sterben, um seinen Freunden und dem Leser die Angst vor dem Tod zu nehmen. Gleichzeitig wird darauf bestanden, dass es doch der gerechteste Mann war, der verurteilt wurde.

Es besteht kein Zweifel, dass der gesamte Dialog mit Zweideutigkeiten bewusst versehen ist. Auch ist die Absicht zu erkennen, Sokrates als den Göttern und Gesetzten gegenüber ehrfürchtigen Mann darzustellen. Wenn Humor in diesem Dialog aufzufinden ist, dann bestimmt nicht in Form einer Anreihung von Witzen und Gags, die das Auditorium zum lachen bringen wollen. Es geht, wie schon mehrmals angedeutet, um eine subtilere Art des Humors, die reale Zustände so beschreibt, dass Paradoxen entstehen. Des Öfteren bezieht sich Sokrates im Dialog auf allgemein verbreitete Meinungen und Ansichten, um sie als falsch zu entblößen. In diesem subversivem Aspekt ruht der Witz des ganzen. Auch wenn es dem modernen Leser nicht mehr so vorkommt, muss vieles von dem, was Platon geschrieben hat, seinerzeit nicht der öffentlichen Meinung entsprochen haben. Platon provozierte, schuf einerseits Polemik, zeigte aber andererseits, wie es vor allem am Ende des Dialogs zu beobachten ist, großes humanes Verständnis für die Leiden seiner Mitmenschen. Diese ist die Größe des platonischen Dialoges: methodisch und akribisch auf verschiedenste Fragestellung einzugehen, mit der Absicht der Wahrheit näher zu kommen, aber doch immer mit Bescheidenheit, Respekt und der Einsicht, dass man selbst verfehlt haben könnte. Nur so kann die gelassene Geisteshaltung, die Sokrates in diesem Dialog charakterisiert, sich entfalten und ihm die nötige Ruhe geben, um sein Schicksal zu konfrontieren. Der Unglaube, den sich Simmias in 107b 2 noch vorenthielt, bleibt unausgesprochen und wird mit dem Ende des Dialogs auf den Leser übertragen.

Quellen

J. Burnet (Hrsg.): Platonis Opera. Tomus I. Clarendon Press, Oxford, 1950.

August S. Wilkins (Hrsg.): M. Tulli Ciceronis De Oratore Libri Tres. Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Hildesheim, 1965.

Donald A. Russel (Ed. und Übers.): Quintilian. The Orator’s Education. Books 6-8. Harvard University Press, Cambridge, 2001.

Diego Lanza: Lo stolto. Di Socrate, Eulenspiegel, Pinocchio e altri trasgressori del senso comune. Giulio Eniaudi editore, Torino, 1997.

Jan Bremmer und Herman Roodenburg (Hrsg.): Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1999.

Salvatore Attardo: Linguistic Theories of Humor. Mouton de Gruyter, Berlin, 1994.

Karl-Wilhelm Weeber: Humor in der Antike. Verlag Philipp von Zabern, Mainz, 1991.

Bilder

Mosaik aus der Villa Adriana. Webseite der Junta de Andalucía (Aufgerufen am 28. Mai 2016). http://www.juntadeandalucia.es/cultura/rutasteatro/galeria_a/galeria_213.jpg

Anmerkungen

  1. 1 Vid. Salvatore Attardo: Linguistic Theories of Humor, Mouton de Gruyter, 1994.
  2. 2 Man denke an britischen Humor, argentinische Komödien oder deutsche Kabarettisten.
  3. 3 Pl. Resp. 388d.
  4. 4 Xen. Symp. 1.11.
  5. 5 ut odio beneuolentia, ut misericordia inuidia, Cic. De or. II, 216.
  6. 6 Cic. De or. II, 217.
  7. 7 ridiculum dictum plerumque falsum est, Quint. Inst. VI.3, 6.
  8. 8 Diego Lanza: Lo stolto. Einaudi Editori, 1997, Seite 17.
  9. 9 ἄσβετος γέλος, Hom. Il. I, 599 und Od. VIII, 326.
  10. 10 Pl. Phd. 58e 3.
  11. 11 τότε μὲν γελῶντες, ἐνίοτε δὲ δακρύοντες, Pl. Phd. 59a 8.
  12. 12 Pl. Phd. 62b.
  13. 13 Pl. Phd. 62c 9.
  14. 14 Pl. Phd. 65a.
  15. 15 Pl. Phd. 66a.
  16. 16 Pl. Phd. 69e
  17. 17 Pl. Phd. 70c.
  18. 18 μορμολύκεια, Pl. Phd. 77e 7.
  19. 19 ἐπᾴδειν, Pl. Phd. 77e 8. Es wäre wohl angemessen, das Wort in der Übersetzung mit einer magischen Nuance zu versehen, beispielsweise, indem es mit „bezaubern“ übersetzt wird. Da das Besingen an sich aber auch magische Konnotationen zeigen kann, habe ich mich in diesem Teil des Textes dafür entschieden.
  20. 20 Pl. Phd. 81b.
  21. 21 Pl. Phd. 82e.
  22. 22 Pl. Phd. 84d.
  23. 23 Pl. Phd. 85a.
  24. 24 Pl. Phd. 86a.
  25. 25 Pl. Phd. 87b.
  26. 26 ὡς ἡδέως καὶ εὐμενῶς καὶ ἀγαμένως, Pl. Phd. 89a 2.
  27. 27 Pl. Phd. 89d.
  28. 28 Pl. Phd. 91a.
  29. 29 Pl. Phd. 101b.
  30. 30 τῷ καὶ σμικρὸν νοῦν ἔχοντι, Pl. Phd. 102a 4.
  31. 31 Pl. Phd. 107b 2. Dieser Zweifel wird nicht mehr geäußert und lässt dem Leser viel Raum zur Interpretation.
  32. 32 Pl. Phd. 107c.
  33. 33 χρὴ τὰ τοιαῦτα ὥσπερ ἐπᾴδειν ἑαθτῷ, Pl. Phd. 114d 6.
  34. 34 Γελάσας δὲ ἅμα ἡσυχῇ, Pl. Phd. 115c 5.
  35. 35 Dorothea Frede: Platons ›Phaidon‹. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999, Seite 11.

 

Hausarbeit vom zehnten April zweitausendfünfzehn zu der Veranstaltung: Dr. Roberto Lo Presti: Platon: Phaidon. Humboldt-Universität zu Berlin, Wintersemester 2014/2015.

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